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Erlebniswelt Rechtsextremismus


zum Vortrag von Dr. Becker (Universität Marburg) | Juni 2009

Ein Bericht von Wolfgang Luppe

Erlebniswelt Rechtsextremismus
Hintergründe, Strategien, Interventionsmöglichkeiten
Vortrag von Dr. phil. Heinz Becker, Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Marburg
am 16. Juni 2009 in Reichelsheim/Odw.

Organisiert wurde diese Informationsveranstaltung von der Gruppe „Odenwald gegen Rechts“, vom Beratungsnetzwerk Hessen und von der „Initiative gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Kreis Bergstraße“, zu der auch die in Ladenburg bereits gut bekannten Margarete Bauer und Manfred Forell gehören.

Beide waren in der mit ca. 60 Zuhörern gut besuchten Reichenberghalle dabei.  Thematisch hatten wir in Ladenburg bereits zwei Veranstaltungen mit ähnlichem Inhalt: vor ca. zwei Jahren mit Manfred Forell einen internen Bericht und 2008 den Vortrag von Peter Wirkner im Domhof. Der Vortrag in Reichelsheim ging von den aktuellen Erkenntnissen aus (die rechte Szene verändert sich ständig) war – entsprechend dem beruflichen Hintergrund von Dr. Becker - stärker wissenschaftlich ausgerichtet. Es wäre zu überlegen, ob Wir-gegen-Rechts auch den Vortrag von Dr. Becker in Ladenburg anbieten sollte, um v.a. Jugendliche, Lehrer und Eltern zu informieren und zu sensibilisieren. Im Zuhörerraum in Reichelsheim war auch eine Schulklasse, vermutlich Oberstufe des Gymnasiums, mit ihren Lehrern dabei, die sich an der anschließenden Diskussion aktiv beteiligte.

Den Einstieg in das Thema suchte Becker durch die Definition von „Rechtsextremismus“, in dem er an Beispielen den Weg vom Vorurteil zur Ideologie aufzeigte. Rechtsextreme erheben sich über Andersdenkende und andere Ideologien und sind intolerant gegenüber anders Denkenden, Aussehenden oder Handelnden. Vorurteile („Ausländer nehmen uns die Arbeit weg!“) sind Tatsachen oder rationalen Gegenargumenten unzugänglich. In Gegenden mit den niedrigsten Ausländeranteilen, z.B. Brandenburg, ist die Ausländerfeindlichkeit am stärksten ausgeprägt. Rechtsextremismus hat die Ideologie der Ungleichwertigkeit, was sich in Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Autoritarismus und Antisemitismus ausdrückt. In Deutschland erkennt man ihn in den rechtsradikalen Parteien (REP, DVU, NPD), in militanten Aktionen (u.a. Skinhead-Szene, Kameradschaften, Autonome Nationalisten analog zu den Linksfaschisten) und in bestimmten kulturellen Ausdrucksweisen (Musik, Publikationsorganen, Verlage, Kleidung) und letztlich im Wahlverhalten. Die NPD will weg von der klassischen Partei und hin zur nationalen Bewegung. Allerdings führen interne Querelen (Personal, Finanzen) zu abbröckelnden Wahlergebnissen, finanzielle Unregelmäßigkeiten entwickeln sich existenzgefährdend für die NPD als Partei, nicht jedoch als Ideologie.  Einen größeren Teil des Vortrags nahm die Analyse der rechten Jugendszene und der Jugendcliquen ein. Der Zulauf in die rechte Jugendszene ist ungebrochen. Hier finden die Jugendlichen Formen der Anerkennung und Wertschätzung, die die „normale“ Welt für sie nicht bereit hält. Rechte Jugendkultur und damit rechte Jugendcliquen haben sich als eine neue jugendliche Sozialisationsmacht etabliert. Man findet sie als Cliquen/ Peergroups mit ideologischen Fragmenten, Musik, eigenem Habitus (Outfit, Symbole, Codes, Alkohol, Gewalt, Nutzung moderner Medien). Die Zugehörigkeit wird nicht mehr so öffentlich und bekennend mitgeteilt. Wichtig ist, dass „Rechts“ weg vom Schläger-Image will, hin zur sozialen Anerkennung durch die Mitte der Gesellschaft. Zunehmend ist die Übernahme von Themen und Verhaltensweisen aus der linken Szene zu beobachten (soziale Themen, schwarze Blöcke, spontanes Auftreten, radikale Musiktexte).

Im letzten Teil des Vortrages geht Dr. Becker auf die neuen Strategien der extremen Rechten ein. Dazu zählt neben dem seit den 90ger Jahren bekannten Vier-Säulen-Konzept (Kampf um die Wähler, um die Köpfe, um die Straße und um den „organisierten Willen“) die sog. Kommunalisierungsstrategie: man engagiert sich in den Dörfern, wird Mitglied in Vereinen, nimmt an Volksfesten teil, engagiert sich in der NPD-Schülerhilfe und bietet sog. Harz IV-Büros an. Organisatorisch engagiert sich die NPD durch Gründung von Kreisverbänden und JN-Stützpunkten. Damit will man den Bürgern vor Ort zeigen, dass die NPD-Leute in Wirklichkeit so ganz anders sind als es die Gegner glauben machen wollen. Wahlergebnisse von über 15% in 50 ostdeutschen Gemeinden, Teilgemeinden und kreisfreien Städten bestätigen den Erfolg dieses Weges „in die Mitte der Gesellschaft“.

Das Erscheinungsbild des Rechtsextremismus hat sich modernisiert. Neben einem alten Erscheinungsbild (Bomberjacken und Springerstiefel) dominiert ein modernes Gewand. Die Mitglieder entstammen nicht mehr nur unteren sozialen Schichten mit geringen Entwicklungsperspektiven, sondern immer mehr dem sozialen Mittelstand bis hin zu intellektuellen Kreisen. Das Aktionsfeld der rechtsextremen Szene zielt zunehmend auf die Lebenswelt („Erlebniswelt“) von Jugendlichen und kombiniert Freizeit- und Unterhaltungswert mit politischen Inhalten. Die früher streng hierarchisch organisierten Gruppen werden zu losen Kreisen und Cliquen. Gruppenzugehörigkeit als Lebensgefühl, Kleidung als Code (Thor Steiner), Unterhaltungsangebote und Wertevorstellungen, die sich von der Erwachsenenwelt abgrenzen.

FAZIT UND AUSBLICK
  • Es gibt nicht mehr den simplen, leicht zu erkennenden Rechtsextremismus. Die Szene wird vielfältiger. Die Ideologie der extremen Rechten versucht in die Mitte der Gesellschaft zu fischen.
  • Die Rechtsextremen suchen nach neuen Formen der politischen Werbung, v.a. bei Jugendlichen (z.B. Schulhof-CD), sie agitieren dabei oftmals „bürgernah“ und vorsichtiger („neue Kleiderordnung“).
  • Die rechtsextreme Szene bietet Formen der Anerkennung und sozialen Wertschätzung. Anerkennungsdefizite sind ein wichtiger Grund für den Einstieg.
  • Die Entscheidungsmöglichkeiten von Politikern und Bürgern, wie man mit Rechtsextremen umgehen soll, liegt zwischen Prävention und Ausgrenzung. Es gibt keine Patentrezepte. Wichtig ist es, die eigenen „Anerkennungsangebote“ auch in den Kommunen zu überprüfen. Wichtig ist auch die richtige Reaktion der Eltern, wenn sie erkennen, dass sich ihr Kind rechtsextremen Gruppen und Gedanken angeschlossen hat. Hier bietet das Beratungsnetzwerk Hessen konkrete Unterstützung an, wie ein ausgelegter Flyer zeigte. Kostenlose Unterstützung bei rechtsextremen Vorfällen in Kommunen, Schulen, Jugendzentren, etc. bietet die „Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus“ in Südhessen an, die Manfred Forell und Margarete Bauer aufgebaut haben.
 Dr. Becker fragte abschließend: was ist besorgniserregender: 3% Stimmenanteil der NPD in Sachsen oder eine Wahlbeteiligung von unter 50%? Aus den unzufriedenen oder gleichgültigen Nichtwählern rekrutieren sich die politischen Extremisten.